Klimaneutral: Auf Käsepackungen, Shampoos und Unternehmenslogos prangt mittlerweile das Label. Doch was steckt dahinter? Und können energieintensive Branchen überhaupt bereits klimaneutral sein? electrified-Autorin Petra Krimphove ist dieser Frage nachgegangen.
Der englische Begriff „net zero emission“ trifft es präziser als das deutsche „klimaneutral“: Es geht um die Netto-Null am Ende einer CO2-Rechnung. Im Großen wie im Kleinen, für Nationen wie für Unternehmen. Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, will die EU bis 2050 nicht mehr schädliches Kohlendioxid ausstoßen, als durch Wälder, Moore und Technologien wieder aufgenommen werden kann.
Deutschland strebt das Ausgleichsziel Null bereits für 2045 an. Dafür nimmt es auch die Wirtschaft in die Pflicht. Die wird unter dem wachsenden Druck von Öffentlichkeit und gesetzlichen Vorgaben aktiv und macht sich auf den Weg in die Klimaneutralität. Häufig, so monieren Kritiker, gehe es dabei aber mehr um einen grünen Anstrich, als um eine echte Reduktion von Emissionen.
Fehlende Definition
„Der Begriff klimaneutral“ ist nicht genau definiert“, bestätigt Dieter Niewierra von der Agentur Climate Partner. Sie hilft Unternehmen, ihren Betrieb oder auch einzelne Produkte klimaneutral zu machen und vergibt dafür das entsprechende Label. Wie die CO2-Minderungen zustande kommen, ob durch Investitionen an den Standorten oder den Kauf von Verschmutzungsrechten, ist für die Verbraucher wenn überhaupt nur schwer zu erkennen. Das monierte auch die Wettbewerbszentrale im Mai 2021 und mahnte einige Unternehmen ab.
Climate Partner vergibt sein Label nach einem festen Ablauf: Die Münchner helfen Unternehmen zunächst dabei, ihre Emissionslast zu berechnen und so weit wie möglich zu senken. Was dann noch an CO2-Emissionen übrig bleibt, kann durch Zertifikate kompensiert werden. Diese werden überall auf der Welt für Projekte ausgestellt, die nachweislich CO2 vermeiden oder speichern: Zum Beispiel durch die nachhaltige Wiederaufforstung von Wäldern oder Wiederverwässerung von Mooren, die CO2 absorbieren. Auch für die Investitionen in Technologien wie CCS (Carbon Capture Storage), die CO2 unter der Erde in Speicher pumpen, gibt es Zertifikate, oder für Projekte, die in afrikanischen Ländern das klimaschädliche Kochen mit Holzöfen durch Solarenergie ersetzen. Wer alle Schritte durchlaufen hat, darf sich oder seine Produkte klimaneutral nennen.
„Die Normen für die Kompensationen sind streng“, betont Dieter Niewierra und listet die vier Voraussetzungen auf: Um Zertifikate verkaufen zu können, muss ein Ausgleichsprojekt erstens dauerhaft angelegt sein. Es genügt also nicht, mal eben einen schnellwachsenden Wald zu pflanzen und bald wieder abzuholzen. Zweitens muss es zusätzliche Einsparungen erbringen, also neu kreiert werden. Ein bestehender Wald erfüllt dies nicht. Drittens dürfen die Zertifikate nicht doppelt dem Ursprungsland und dem sie kaufenden Unternehmen angerechnet werden und viertens schließlich: „Was in Peru oder Ghana passiert, muss regelmäßig vor Ort kontrolliert werden“. sagt Niewierra. So schreibt es auch der vom World Wide Fund For Nature (WWF) kreierte Gold-Standard vor, an dem die Münchner sich orientieren.
Zertifikate sind umstritten
Die Zertifikate unterscheiden sich beträchtlich in ihrer Qualität und ihrem Preis – und sie sind umstritten. Häufig sind sie für die Firmen günstiger, als ihre gesamten Prozesse und Zulieferketten in Richtung Klimaneutralität umzubauen. Auf der Weltklimakonferenz war die Definition und Qualität der Zertifikate ein zentraler Streitpunkt.
Für Climate Partner sind sie ein zentraler Teil der Strategie. Das Geschäft mit und die Nachfrage nach dem Klimaneutral-Label boomt. Climate Partner hat mittlerweile über 300 Mitarbeiter in Büros auf der ganzen Welt und arbeitet mit 4.000 Unternehmen in 35 Ländern zusammen. „Der Markt für Zertifikate geht durch die Decke“, sagt Sprecher Niewierra. Überall auf der Welt sprießen neue Projekte aus dem Boden. Climate Partner startete bereits vor 15 Jahren sein eigenes Label und hat mittlerweile Kompensationsprojekte auf der ganzen Welt im Portfolio, einige davon auch selbst initiiert. Die Münchner vergeben das Klimaneutral-Label nur gemeinsam mit einer ID oder einem QR-Code. Die stehen auf den Produkten und führen auf die Website des Unternehmens, wo die Details der Einsparungen aufgelistet sind. Transparenz sei immens wichtig, sagt Niewierra.
Digitalisierung als Fluch und Segen
Ohne Zertifikatszukauf klimaneutral zu werden ist für viele Branchen als Gesamtheit derzeit noch kaum möglich. Das zeigt das Beispiel des IT- und Kommunikationssektors. Eine Prognose des Fachmagazins Nature schätzt, dass im Jahr 2030 bis zu 30 Prozent des globalen Energiebedarfs auf das Konto der IT- und Kommunikationstechnik gehen. Wäre das Internet ein Land, stünde es an sechster Stelle der Energiekonsumenten, hat Greenpeace griffig errechnet.
Um ohne Zertifikate klimaneutral zu werden, müsste die Branche ihren Strom komplett aus regenerativen Quellen beziehen. Im Jahr 2020 lag der Anteil des Öko-Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse in Deutschland jedoch bei 46 Prozent. 35 Prozent wurden durch die klimaschädliche Verbrennung fossiler Energieträger wie Gas und Kohle erzeugt.
„Wenn wir klimaneutral werden wollen, brauchen wir Digitalisierung“, sagt Ralph Hintemann vom Berliner Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit. Sie ist im Hinblick auf CO2-Emissionen Problemtreiber und Lösungsbeitrag, Fluch und Segen zugleich. In Gebäuden und Fertigungsprozessen helfen digitale Lösungen, Energie einzusparen. Automatisierung, Datenaustausch, Vernetzung – all das ist ohne Computer und Software nicht möglich. Und wie viele aus der Pandemie-Zeit wissen, lassen sich durch digitale Meetings auch zahllose klimaschädliche Reisen vermeiden.
Rechenzentren als Stromfresser
Doch insbesondere die riesigen Rechenzentren – das Rückgrat der Digitalisierung – sind Stromfresser ihresgleichen. Strom lässt sie laufen, Strom kühlt sie runter, da ihr Betrieb Wärme erzeugt. Laut dem Borderstep Institut stieg der Energiebedarf der deutschen Rechenzentren allein 2020 um sieben Prozent auf 16 Milliarden Kilowattstunden. In ganz Europa verbrauchten Server im Jahr 2020 stattliche 55 Prozent mehr Strom als zehn Jahre zuvor. „In Hanau entsteht ein Rechenzentrum, das soviel Strom wie eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern benötigen wird“, sagt Experte Ralph Hintemann. Immerhin wird in vielen Projekten bereits erprobt, die von den Rechenzentren produzierte Wärme sinnvoll zu nutzen. Ein Rechenzentrum in Frankfurt heize mit seiner Abwärme rund 1.300 Wohnungen, sagt Hintemann. Doch das sei noch zu wenig und nur ein Anfang. „In der Branche ist schon viel angestoßen, aber sie muss noch an Geschwindigkeit zulegen.“
Die Emissionen der gesamten IT-Branche schätzt das Borderstep Institut auf 1,8 bis 3,2 Prozent. „Das ist ehr schwer genau zu beziffern“, sagt Hintemann, eingeschlossen sei da auch der Energieaufwand zur Herstellung der Hardware von Laptop über iPhone bis Server. Vieles beruhe auf Schätzungen. „Wir wissen gar nicht genau, wieviel Server es überhaupt gibt.“ Hinzu kommt der Strombedarf aller Haushalte, die von Emails-Checken am Morgen bis zu Streamen am Abend online sind. Einig sind sich Experten, dass die CO2-Emissionen der Rechenzentren mittlerweile mit denen des deutschen Flugverkehrs vergleichbar sind.
Ralph Hintemann ist sicher, dass sich der Energiebedarf der Branche weiter erhöhen wird. In Punkto Klimaneutralität bedeutet das: „Das Hauptthema für diesen Sektor ist eine möglichst CO2-neutrale Stromversorgung. Alle großen Cloudanbieter beschäftigen sich damit“.