Interviews

Bentele: Autozentrierte Politik ist ein großes Problem

Verena Bentele ist seit Mai 2018 Präsidentin des Sozaliverbandes VdK. Foto: Viktor Strasse

Verena Bentele ist seit Mai 2018 Präsidentin der Sozialverbandes VdK. Im Interview mit electrified spricht sie über die Notwendigkeit einer barrierefreien Mobilität, eine autozentrierte Verkehrspolitik und über ihre Forderungen an Bundesverkehrsminister Volker Wissing.

Für Verena Bentele geht die autozentrierte Politik der zurückliegenden Jahrzehnte zu Lasten breiter gesellschaftlicher Gruppen. So beklagt die 40-Jährige im Interview mit dem Magazin electrified den fehlenden Platz für barrierefreie Gehwege. Auch würden sichere Fahrradwege und ein auch im ländlicher Raum verfügbarer ÖPNV mit hoher Taktung fehlen.


„Der Fokus auf das Auto geht zum Nachteil für viele gesellschaftliche Gruppen. Für diejenigen, die in den schweren Autos sitzen, überproportional viele Männer mit überdurchschnittlichem Einkommen, für die ist die Stadt von heute gemacht“, sagte Bentele.

«Nähern uns sozialer Teilhabe im Schneckentempo»

electrified: Frau Bentele, wie sehr ärgert es Sie, dass es bei der Diskussion um eine Verkehrswende zumeist um den Aspekt des Klimaschutzes und weniger um die soziale Teilhabe an der Mobilität geht?

Verena Bentele: Aus Sicht des Sozialverbandes VdK müssen diese beiden Aspekte nicht gegeneinander aufgewogen werden. Ich gehe davon aus, dass eine klimagerechte und eine soziale Mobilitätswende Hand in Hand gehen.

electrified: Sie setzen sich als VdK für eine sozialverträgliche Mobilität ein. Wird das Thema der sozialen Teilhabe an der Mobilität von der Verkehrspolitik nach wie vor zu stiefmütterlich behandelt?

Bentele: Wenn man unter sozialer Teilhabe an der Mobilität versteht, dass alle Menschen in unserem Land selbstbestimmt von A nach B kommen, dann ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Als Beispiel führe ich gerne die fehlende Barrierefreiheit an. Ein barrierefreier öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) ist die Grundvoraussetzung für soziale Teilhabe. Für den ÖPNV wurde die Zielmarke der vollständigen Barrierefreiheit zum 1. Januar 2022 allerdings gerissen.

electrified: Gibt es schon ein neues Zieldatum?

Bentele: Leider lassen die Verkehrsminister der Länder weiterhin ein Bekenntnis zu einem neuen Zieldatum 2026 vermissen. Vielmehr pochen sie weiterhin auf Ausnahmeregelungen. Im Fernverkehr nähern wir uns der sozialen Teilhabe nur im Schneckentempo. Die fehlende Barrierefreiheit führt dazu, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen noch immer ihre Fahrten tageweise vorher anmelden müssen.

Bei der Elektrifizierung des Automobilmarkts werden beispielsweise wesentliche Aspekte der Barrierefreiheit nicht berücksichtigt. Beim Aufbau der E-Auto-Ladeinfrastruktur wird bisher versäumt, die Bedürfnisse von Rollstuhlnutzerinnen und -nutzer mitzudenken. Dabei wäre es so einfach, neue Ladesäulen barrierefrei zu gestalten. Sie könnten einfach über abgesenkte Bordsteine und ausreichend Bewegungsflächen erreichbar gemacht und die Bedienfelder und Bezahlsysteme so tief platziert werden, dass alle Menschen sie bedienen können.

«Veränderungen werden nicht schnell genug angegangen»

Verena Bentele setzt sich für eine barrierefreie Mobilität ein. Foto: Viktor Strasse

electrified: Sie haben zusammen mit der Kirche, Gewerkschaften und Umweltverbänden das „Bündnis sozialverträgliche Mobilität“ gegründet. Braucht es einen solchen Zusammenschluss, um bei der Politik Gehör zu finden?

Bentele: Im „Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende“ setzen wir uns mit Verkehrs- und Umweltschutzverbänden, Gewerkschaften und der Evangelischen Kirche dafür ein, die Mobilitätswende ganzheitlich zu denken. Wir bringen hier verschiedene Perspektiven auf das Thema Mobilität zusammen – und das alles sehr fruchtbar und konstruktiv. Uns eint der Grundgedanke, dass Mobilität in unserer Gesellschaft einerseits einen sehr hohen Stellenwert hat, andererseits der aktuelle Mobilitätsmix große Probleme bereitet – sowohl in sozialer Hinsicht als auch mit Blick auf den Klimaschutz.

electrified: Die Probleme werden also nicht konsequent genug angegangen?

Bentele: Wir sind davon überzeugt, dass notwendige tiefgreifende Veränderungen nicht konsequent genug angegangen werden. Wir haben natürlich auch Punkte, in denen wir gegenseitig um Verständnis werben müssen. So ist für Klimaschutzverbände die Vision einer autofreien Stadt eine Verheißung. Für einige unserer Mitglieder, die ihre Einkäufe zum Beispiel aufgrund ihres Alters oder ihrer Mobilitätseinschränkung nicht mit dem Lastenrad erledigen können, ist diese Vision bedrohlich. Als etablierte Akteure aus verschiedenen Richtungen gelingt es uns, unsere Forderungen breit zu streuen – Menschen mit Behinderungen, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Kirchenmitglieder und Klimabewegte werden von uns gleichermaßen adressiert.

«Autozentrierte Politik ist ein großes Problem»

electrified: Was ist Ihr Hauptvorwurf an die Politik, wenn es um den Aspekt der sozialen Teilhabe an der Mobilität geht? Ist es eine zu stark autozentrierte Politik?

Bentele: Die autozentrierte Politik der letzten Jahrzehnte ist ein großes Problem. Platz für barrierefreie Gehwege, sichere Fahrradwege und einen hoch getakteten, auch im ländlichen Raum verfügbaren ÖPNV fehlen. Der Fokus auf das Auto geht zum Nachteil für viele gesellschaftliche Gruppen. Für diejenigen, die in den schweren Autos sitzen, überproportional viele Männer mit überdurchschnittlichem Einkommen, für die ist die Stadt von heute gemacht.

electrified: Haben Sie den Eindruck, dass unter Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) eine Verkehrspolitik betrieben wird, die die richtigen Akzente für eine sozialverträgliche Mobilität setzt?

Bentele: Das 9 Euro-Ticket hat gezeigt, dass die Menschen unter bestimmten Bedingungen gerne den ÖPNV nutzen möchten. Dies ist ja auch das erklärte Ziel der Bundesregierung: Bis 2030 sollen sich die Fahrgastzahlen im ÖPNV und Fernverkehr verdoppeln. Um dieses Ziel aber verantwortungsvoll zu erreichen, braucht es massive Investitionen. Sowohl in den Ausbau der Netze, wie auch in den Erhalt und Ausbau von Stationen und Fahrzeugen. Hinzu kommt die noch immer nicht geschaffene Barrierefreiheit und die Frage, wie man ausreichend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewinnen kann, um dieses Mobilitätsnetz zu betreiben, instand zu halten und weiterzuentwickeln.

«Barrierefreiheit sollte mehr im Fokus des Verkehrsministers stehen»

electrified: Das Thema Barrierefreiheit genießt also nicht die Priorität, die sie haben sollte?

Bentele: Aus meiner Sicht sollte auch die Barrierefreiheit noch mehr im Fokus des aktuellen Verkehrsministers liegen. Wenn Herr Wissing sagt, dass überall ein ÖPNV-Angebot wie in Berlin-Mitte utopisch sei, frage ich mich, inwiefern dies der Debatte nutzt. Niemand fordert, dass überall leere Straßenbahnen durch die Landschaften fahren. Mit solchen Aussagen baut Volker Wissing ein Kartenhaus, das beim ersten Gegenwind zusammenfällt. Das lenkt von den echten Themen, wie weniger individueller PKW-Verkehr, mehr Barrierefreiheit und zuverlässige Transportsysteme ab. Für solcherlei Ablenkungsmanöver gibt es im öffentlichen Verkehrssektor viel zu viel zu tun.

electrified: Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl fordert in ihrem Buch „Autokorrektur“ das Recht auf ein Leben ohne Auto. Ist es genau das, was wir brauchen: eine Mobilität, die auch dann funktioniert, wenn man kein Auto besitzt?

Bentele: Katja Diehl streitet mit einer bewundernswerten Konsequenz für die Verkehrswende. Mir gefällt, dass sie die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in den Blick nimmt. Eine Mobilität ohne Auto ist für viele unserer Mitglieder unter den aktuellen Bedingungen allerdings nicht vorstellbar. Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer und Menschen, die keine weiten Strecken zurücklegen können, verspricht das Auto eine Form von Selbstbestimmung. Selbstständig mobil zu sein, muss unter allen Umständen möglich sein. Deswegen stimmen wir einer deutlichen Reduktion des Autoverkehrs, beispielsweise in Innenstädten, gern zu. Wir fordern, dass die schwächsten Verkehrsteilnehmer, wie Fußgänger oder Nutzer von Rollatoren, sicher an ihr Ziel kommen.

Jedoch muss die Zufahrt und Parkplätze für Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung weiterhin ermöglicht werden. Wir sollten zudem darüber nachdenken, ob nicht auch Menschen mit einer einfachen Gehbehinderung, also dem Merkzeichen G in ihrem Schwerbehindertenausweis, spezielle Parkflächen zur Verfügung gestellt bekommen sollten.

«Sollten mehr über Sharing-Systeme nachdenken»

electrified: Wer in der Großstadt mit einem gut ausgebauten ÖPNV lebt, der kann auf ein eigenes Auto verzichten, auf dem Land bleibt das schwierig. Bleibt die Bedeutung des Autos auch perspektivisch hoch?

Bentele: Für Menschen in ländlichen Regionen benötigen wir kluge Ergänzungen zum aktuellen Angebot, zum Beispiel On-Demand-Angebote, die mittels intelligenter Streckenführung viele Menschen aus ländlichen Regionen als Teil des ÖPNV zu den nächstgrößeren Bahn-Haltestellen bringen. Hier sollten sich die Kommunen in der Verantwortung sehen, ihren Einwohnerinnen und Einwohnern Angebote zu machen, dass diese das Auto auch mal stehen lassen können. Außerdem sollten wir noch mehr über Sharing-Systeme nachdenken. Und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch in ländlichen Regionen.
Wenn der Arbeitsweg mit einem Mix aus einem On-Demand-Fahrdienst und dem ÖPNV bestritten wird, braucht es das Auto nur noch für die nächste Fahrt zum Baumarkt oder Supermarkt. Hierfür würde sich ein Car-Sharing mit Fahrzeugen in verschiedenen Größen anbieten.

«Viele unserer Mitglieder kaufen sich keinen Neuwagen»

electrified: Die Autoindustrie bringt immer mehr Elektroautos auf den Markt. Doch erschwinglich sind sie für Geringverdiener nicht. Werden hier nicht breite Bevölkerungsschichten ausgeschlossen?

Bentele: Elektroautos spielen für die Mitglieder des Sozialverband VdK unter den aktuellen Bedingungen noch eine geringe Rolle. Viele unserer Mitglieder kaufen sich keinen Neuwagen und erst recht keine Elektroautos, die trotz üppiger staatlicher Förderungen noch immer sehr teuer sind. Hier müssten die Autohersteller in Deutschland viel mehr Anstrengungen darauf verwenden, tatsächlich massentaugliche, bezahlbare Autos zu bauen.

electrified: Die Bundesregierung hat gerade das 49-Euro-Ticket auf den Weg gebracht. Sie kritisieren es, obwohl es einen wichtigen Beitrag für die Mobilitätswende ums Klima leistet. Warum?

Bentele: Weil es so nur teilweise einen Beitrag zur sozialen Teilhabe leisten kann. Dafür ist es mit 49 Euro im Monat für arme Menschen zu teuer. Das Ticket ist ein gutes Angebot für Pendlerinnen und Pendler, die ohnehin schon ein Abonnement hatten oder für Menschen, denen es nun leichter fällt, vom Auto auf den ÖPNV umzusteigen. Insofern kann es einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten. Wenn es aber nicht ergänzend zu dem regulären 49 Euro-Ticket noch ein Sozialticket für maximal 29 Euro gibt, wird eine große Chance, für mehr soziale Teilhabe zu sorgen, verpasst.

«Das Mobilitätsgeld ist ein guter Vorschlag»

electrified: Steht Ihrer Kritik an den hohen Kosten nicht die Mobilitätsprämie für Geringverdiener gegenüber?

Bentele: Das Mobilitätsgeld ist ein guter Vorschlag. Es sollte die zutiefst unsozial gestaltete Pendlerpauschale ablösen. Von ihr profitieren Personen mit hohem Einkommen deutlich stärker als solche mit niedrigerem Steuersatz – bei der gleichen Entfernung. Es handelt sich um eine unzulässige Umverteilung von unten nach oben.
Wir bevorzugen die Einführung eines Mobilitätsgeldes, das jeden Pendel-Kilometer gleich bewertet – unabhängig von dem Einkommen desjenigen, der den Kilometer zurücklegt. Mit einberechnet werden sollte da allerdings nicht nur die Entfernung zur Arbeit. Auch Fahrten, die zur Erledigung der sogenannten Care-Arbeit getätigt werden, sollten einbezogen werden. Es kann nicht sein, dass der Weg zur Arbeit mehr zählt, als das Abholen der Kinder aus dem Kindergarten oder das Fahren der Großmutter zum Arzt.

electrified: Sie bemängeln auch, dass es das Klimaticket nur als digitale Variante geben soll. Doch hilft nicht gerade die Digitalisierung, Mobilität einfacher zu machen?

Bentele: Wir hatten vor allem Sorge, dass eine reine Smartphone-Lösung viele unserer Mitglieder von der Benutzung des 49 Euro-Tickets ausschließen würde. 53 Prozent der Menschen über 65 besitzen kein Smartphone und auch viele arme Menschen können sich ein solches Gerät nicht leisten. Wir sind froh, dass unsere Bedenken gehört wurden und es nun auch die Möglichkeit geben soll, das Ticket in Form einer digitalen Chip-Karte zu erwerben. Außerdem freut es uns, dass das Ticket auch am Schalter erworben werden kann.

Mit der jetzigen Lösung können wir gut leben. Auch und insbesondere, weil die digitalen Daten, die mit den Tickets erfasst werden sollen, zur Verkehrsplanung herangezogen werden sollen. Dies ist besonders wichtig, will man Szenen wie aus diesem Sommer, bei denen Menschen mit dem Rollstuhl oder dem Rollator nicht mehr in die Züge gekommen sind, langfristig verhindern. Die Taktungen müssen so geplant werden, dass es nicht wieder zu Überfüllungen kommt.

«9-Euro-Ticket hat zu mehr sozialer Teilhabe beigetragen»

electrified: Hätte das Neun-Euro-Ticket denn zu dieser sozialen Teilhabe beitragen können, die sie wünschen?

Bentele: Das 9 Euro-Ticket hat in der Zeit, in der es zur Verfügung stand, tatsächlich zu mehr sozialer Teilhabe von armen Menschen beigetragen. Man darf nicht unterschätzen, wie sehr die aktuelle Situation der Inflation Menschen mit geringen Einkommen unter Druck setzt. Da war das 9 Euro-Ticket eine echte Entlastung für Menschen mit sehr wenig Geld. Um diese Menschen einerseits finanziell zu entlasten und ihnen andererseits aber auch ein Mehr an Mobilität zu ermöglichen. Im Zusammenhang gesehen sicherlich die sinnigere Entlastungsmaßnahme, im Vergleich zum Tankrabatt.

electrified: Einer Ihrer Kritikpunkte am Neun-Euro-Ticket war, dass es von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder Behinderungen kaum genutzt werden konnte. Sehen Sie mit Blick auf die Barrierefreiheit ansatzweise eine Besserung?

Bentele: Schon vor Einführung des 9-Euro-Tickets ließ die Barrierefreiheit, zu wünschen übrig. Dazu zählen wir beispielsweise die Ausstattung mit Aufzügen oder Rampen, taktilen Leitsystemen, Lautsprechern und barrierefrei zugänglichen und nutzbaren Bussen und Zügen. Während des letzten Sommers kam hinzu, dass die bestehende Infrastruktur der Nachfrage nicht gewachsen war. Es gab teilweise eine Art „survival of the fittest“ in den Zügen und auf den Bahnsteigen.
Während viele Menschen sich in einen vollen Zug noch hineinquetschen können, ist dies für Menschen mit einem Rollstuhl oder mit Angststörungen nicht möglich. Sie haben dann auf die Fahrten mit dem ÖPNV verzichtet. Dies ist besonders schwerwiegend, da viele dieser Menschen seit jeher treue Nutzerinnen und Nutzer des ÖPNV sind. Sie haben keine Alternativen, auf die sie umsteigen können. Ich hoffe, dass die digitalen Verkehrsdaten dazu genutzt werden, um das Angebot allen Menschen zugänglich zu machen.

«Fortschritte im Fernverkehr reichen nicht»

electrified: Was sind im Alltag für Sie als Blinde die größten Herausforderungen, wenn Sie mit Bus und Bahn oder als Fußgängerin unterwegs sind?

Bentele: Vor wenigen Tagen bin ich mit dem ICE von München nach Berlin gefahren. Wenn das Abfahrtsgleis einfach 10 Minuten vor der Abfahrt geändert wird und es keine Durchsage gibt, dann ist dies für mich schwierig. Eine Einschränkung sind für mich auch volle Gehwege, die man sich in der Großstadt mit Radfahrern und deren geparkten Rädern, mit Aufstellern, Kaffeetischen, Kinderwägen etc. teilt. Die E-Scooter, die überall ohne Plan mitten im Weg geparkt werden, sind für mich ein echtes Ärgernis. Auch Elektro-Autos, die keine Geräusche von sich geben, sind an Kreuzungen ohne Ampel ein Problem.

electrified: Die Deutsche Bahn hat unlängst die neue ICE-Generation vorgestellt und lobt die verbesserte Barrierefreiheit mit mehr Plätzen für Rollstuhlfahrer, zwei Hubliften und Piktogrammen in Brailleschrift. Stellt Sie das zufrieden?

Bentele: Leider muss ich sagen, dass diese Fortschritte im Fernverkehr noch lange nicht ausreichen. Insbesondere die Hublifte lösen nicht das Kernproblem, den fehlenden stufenlosen Einstieg in den Zug. Auch wenn es in Zukunft zwei Hublifte geben soll und diese auch in ihrer Handhabung einfacher, schneller und weniger fehleranfällig sein sollen, bleibt das Kernproblem, dass Menschen mit Rollstühlen auf die Unterstützung des Bahnpersonals angewiesen sind, um in den Zug zu kommen. Unsere Definition von Barrierefreiheit bedeutet: Selbstständig auffindbar, zugänglich und nutzbar. Dies erfüllen diese neuen Züge leider nicht. Ein guter Neuerwerb der Deutschen Bahn ist der ICE-L, der ab dem nächsten Jahr eingesetzt werden soll.

«Im Innenraum werden neue Züge immer besser»

electrified: Was gefällt Ihnen denn am ICE-L?

Bentele: Hier haben wir es mit einem stufenlosen Einstieg zu tun. Leider wird dieser aber zunächst nur auf wenigen Strecken eingesetzt. Interessant sind aktuell die Entwicklungen rund um die Ausschreibung des nächsten Großauftrags der Deutschen Bahn, die Entwicklung eines neuen Hochgeschwindigkeitszuges, dem HGV 3.0. Mit der Auswahl von Siemens und Alstom duellieren sich nun zwei etablierte Akteure um diesen Auftrag. Ich würde mir wünschen, dass beide in Hinblick auf die Barrierefreiheit über die Anforderungen der Bahn hinausgehen – denn diese waren im Hinblick auf die Anforderungen an stufenlosen Einstieg enttäuschend. Im Innenraum werden die neuen Züge tatsächlich immer besser. Je mehr Brailleschrift, 2-Wege-Informationssysteme, Piktogramme und Kontraste es gibt, desto besser.

electrified: Eine Vielzahl von Autobauern arbeitet am autonomen Fahren, die Bahntochter Ioki bietet beispielsweise in Hamburg Rufbusse an. Sind das Dinge, die helfen, die soziale Teilhabe zu erhöhen?

Bentele: Rufbusse können aus meiner Sicht tatsächlich dazu beitragen, den ländlichen Raum mobiler zu machen. Insofern haben solche Projekte das Potenzial, zu mehr sozialer Teilhabe von ländlicher Bevölkerung beizutragen. Wir wissen, dass die bestehenden On-Demand-Systeme, wie zum Beispiel loki, ihre tatsächliche Stärken erst dann ausspielen können, wenn sie autonom fahren. Wie nah wir da tatsächlich schon an einem Regelbetrieb stehen, müssen andere beurteilen. Was für uns wichtig ist, ist, dass diese Angebote barrierefrei sind. Das heißt die entsprechenden Apps müssen barrierefrei gestaltet sein, es muss weiterhin die Möglichkeit zur telefonischen Kontaktaufnahme geben und auch die Autos und Haltepunkte müssen barrierefrei sein. Hier sehe ich die größten Herausforderungen. In Autonomen Fahrzeugen sitzt nun mal niemand mehr drin, der einen Rollstuhl im Wageninneren fixieren kann oder beim Ein- und Ausstieg von Seniorinnen und Senioren eine Hand reicht. Insofern würde ich dafür plädieren, dass die Anbieter solcher autonomen Systeme auch noch ausreichend Personal vorhalten, um flexibel auf die Anforderungen ihrer Kundinnen und Kunden reagieren zu können.

«Thema Barrierefreiheit in Lehrpläne aufnehmen»

Verena Bentele kritisiert eine autozentrierte Verkehrspolitik. Foto: Viktor Strasse

electrified: Welche Rolle spielt bei Ihren Forderungen die Stadtplanung, die über Jahre hinweg vor allem das Auto und weniger Radfahrer und Fußgänger im Blick hatte?

Bentele: Die Stadtplanung spielt sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis eine große Rolle bei der Transformation unserer Umwelt. Aus diesem Grund wünsche ich mir hier auf zwei Ebenen Veränderungen. Zum einen sollte das Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Raum in die Lehrpläne der entsprechenden Studiengänge aufgenommen werden. Zum anderen sollten in der Praxis vonseiten der Kommunen ab dem ersten Augenblick einer Stadtplanungsmaßnahme der örtliche Behindertenbeirat und der Seniorenrat einbezogen werden. Leider gibt es diese noch nicht in allen Kommunen.

Dort sollten kommunale Vertreter gezielt auf örtliche Verbände von Menschen mit Behinderungen zugehen und sie in ihre Planungen einbeziehen. Wir wissen, dass eine barrierefreie bauliche Gestaltung nicht mehr kosten muss und auch höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen kann, wenn man das Thema von Beginn an mitdenkt. Eine barrierefreie Gestaltung kommt dann auch Radfahrern und Fußgängern zugute, da sie das Prinzip der Planung von außen nach innen verfolgt: Zunächst ausreichend breite und barrierefrei gestaltete Gehwege, dann räumlich abgetrennte Radwege und zum Schluss wird geschaut, wieviel Platz noch für die Autos da ist. Dies wäre in der Tat ein notwendiger Paradigmenwechsel.

electrified: Wie sieht für Sie eine lebenswerte Stadt aus? Ist sie barriere- und autofrei?

Bentele: Die lebenswerte Stadt der Zukunft vereint einen zeitgemäßen Mobilitätsmix mit einem hohen Maß an Aufenthaltsqualität. Hierzu ist eine barrierefreie Gestaltung von Gehwegen, Straßenüberquerungen, ÖPNV und öffentlichen Gebäuden eine Grundvoraussetzung. Durch den stark reduzierten Autoverkehr werden Fahrbahnen und Parkplätze frei, die dann anders verwendet werden können. Es können so Abstellflächen für Fahrräder und E-Scooter oder Flächen für die Außengastronomie entstehen. Außerdem werden mehr Bänke im öffentlichen Raum aufgestellt, sodass auch Menschen ohne das Geld für gastronomische Angebote bequem im öffentlichen Raum verweilen und sich dort treffen können. Der Autoverkehr sollte in einem stark eingeschränkten, sinnvollen Maße weiterhin zugelassen sein, verliert aber seine Vormachtstellung.

Das Interview mit Verena Bentele führte Frank Mertens

Über den Autor

Frank Mertens

Nach dem Sport- und Publizistikstudium hat er sein Handwerk in einer Nachrichtenagentur (ddp/ADN) gelernt. Danach war er jahrelang Sportjournalist und hat drei Olympische Spiele (Sydney, Salt Lake City, Athen) als Berichterstatter begleitet. Bereits damals interessierten ihn mehr die Hintergründe als das bloße Ergebnis. Seit 2005 berichtet er über die Autobranche. Neben der Autogazette verantwortet er auch den redaktionellen Teil des Magazins electrified.

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