Mercedes hat sich Zeit gelassen. Viel Zeit. Doch nun haben auch die Schwaben eine eigene für die Elektromobilität konzipierte Plattform1. Erstmals zum Einsatz kommt die Electric Vehicle Architecture (EVA) im EQS.
Das ist er nun, der neue Mercedes EQS. Es ist der 23. März und der Premiumhersteller präsentiert in der Hall 10 der Stuttgarter Messe sein neues Elektro-Flaggschiff.
Noch steht der EQS getarnt am Hinterausgang der Messehalle. Die offizielle Weltpremiere findet erst am 15. April virtuell statt. Bis dahin wird der EQS der breiten Öffentlichkeit nicht ohne Tarnfolie gezeigt. Jede Neuvorstellung eines Modells ist für einen Hersteller immer etwas Besonderes. Doch diesmal ist es doch etwas anders als sonst. Schließlich zeigt Mercedes hier sein Elektro-Flaggschiff – und lädt zu einer ersten Mitfahrt ein. Nachdem Mercedes den Weg in die E-Mobilität jahrelang verschlafen hatte, soll nun alles besser werden. Mit dem EQS will man durchstarten – und natürlich auch Tesla endlich Konkurrenz machen.
An einem solchen Tag müsste eigentlich die Sonne scheinen, doch in Stuttgart ist der Himmel grau in grau. Die Sonne will sich partout nicht zeigen. Doch es ist ein Tag, der zur allgemeinen Stimmung im Land passt. Warum sollte sie auch einen Gegenpol zu den Nachrichten bilden, die nur wenige Stunden zuvor aus dem Kanzleramt in Berlin drangen?
Kurz vor den Osterfeiertagen wurde nach einer dieser unzähligen Marathon-Sitzungen der Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ein neuer Lockdown verkündet. Eine staatlich verordnete Osterruhe ist nicht das, was sich das Gros der coronageplagten Deutschen für die nahenden Feiertage vorgestellt hat. Dass diese staatlich verordnete Osterruhe begleitet von einer Entschuldigung der Kanzlerin tags drauf wieder kassiert wird, weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass hier in Messe-Halle 10 auch das Stuttgarter Impfzentrum untergebracht ist, rundet das Bild irgendwie ab.
Aufbruch mit EVA
Doch bevor wir zur Mitfahrt aufbrechen, sind wir mit Michael Weiß verabredet. Er ist technischer Leiter der E-Drive-Antriebe bei Daimler. Von schlechter Stimmung ist bei ihm nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil. Weiß ist bester Laune, auf diesen Tag hat er die letzten Jahre hingearbeitet. „Der EQS war ohne Frage eines der bislang spannendsten Projekte meiner Karriere“, sagt Weiß. Nachdem Modelle wie der EQC, EQA und EQB noch auf alten Verbrenner-Plattformen aufbauen, ist der EQS auf einer speziell für die E-Mobilität entwickelten Architektur unterwegs. Damit sind die Zeiten der Kompromisse vorbei. Die Neuzeit hat auch bei den Schwaben begonnen, wenngleich mit Verspätung. Doch lieber spät und überzeugend, als früh und enttäuschend.
Entwickler und Designer haben die Möglichkeiten genutzt, die ihnen die neue Plattform bietet. Da ist zum einen ein Design, das dem den Ansatz der „sinnlichen Klarheit“ folgt, wie Robert Lesnik sagt. Was er darunter versteht, sieht man von der Seite. Da sind „keine Sicken, keine Dropinglines“ zu sehen, es gibt nur klare Formen, so der Leiter Exterieur-Design.
Das Design, so erklärt er, orientiere sich am „Bow“ – dieser Bogen zieht sich elegant über die gesamte Fahrzeugbreite des 5,21 Meter langen Fahrzeugs. Auffällig ist nicht nur die coupehafte Form, sondern auch die kurzen Motorhaube. Doch was heißt schon Motorhaube – ein Motor befindet sich hier ja nicht mehr, vielmehr ist dort ein Hepa-Filter, der für saubere Luft im Innenraum sorgt. Öffnen lässt sich die Haube übrigens nicht mehr. Und was passiert beim Nachfüllen des Wassers für die Scheibenwischer? Dafür wurde am linken Kotflügel eine kleine fast unsichtbare Klappe verbaut. Per Druck fährt sie aus.
Hyperscreen bestimmt Innenraum
Wer im Fond Platz nimmt, der merkt die Coupé-Form mit seiner abfallenden Dachlinie. Mit einer Größe von 1,91 Metern kann man hier noch sitzen, aber die Haare touchieren schon das Dach, doch an Kniefreiheit mangelt es nicht. Vom Rücksitz hat man dann auch ein guten Blick auf das Cockpit – mit seinem über fast die gesamte Fahrzeugbreite reichenden Hyperscreen. Über den Touchscreen probieren wir bei der Mitfahrt etwas später auch die verschiedenen Sounds an. Insgesamt haben die Sounddesigner dem EQS drei Klangwelten mit auf den Weg gegeben: Silver Waves, Vivid Flux und Roaring Pulse. Dabei reicht das Spektrum ruhig, besinnlich bis hin zu extrovertiert – beim Roaring Pulse wird ein Sound generiert, der an kraftvolle Verbrennermotoren erinnert. Wer sich für ein E-Auto entscheidet, der dürfte indes das gerade nicht wollen. Aber die Kundinnen und Kunden haben ja Alternativen.
Doch zurück zu EVA und Michael Weiß, der uns vom elektrischen Antrieb berichtet, der eine Reichweite von bis zu 770 Kilometer mit dem 107,8 kWh starken Akku ermöglicht. Zum Einsatz kommt im EQS dabei eine neue Batteriegeneration mit einer höheren Energiedichte. Beim größeren Akku liegt der Energiegehalt 26 Prozent über dem des EQC. Die Elektromotoren an Vorder- und Hinterachse stellen eine Leistung von über 520 PS zur Verfügung. Das Drehmoment liegt bei mindestens 550 Nm. Das hört sich nicht nur gut an, sondern fühlt sich noch besser an, wie wir vom Beifahrersitz erleben. So schnell waren wir zwar nicht unterwegs, doch die Spitzengeschwindigkeit des EQS liegt bei 210 km/h. Angeboten wird der EQS übrigens mit Heck- und Allradantrieb.
Verbrauch zwischen 16 und 19 kWh
Und wie schaut der Verbrauch aus? Final zertifiziert wurde er noch nicht, aber er soll zwischen 16 und 19 kWh auf 100 Kilometer liegen. „Ich selbst komme bei Testfahrten auf 16 kWh“, berichtet Weiß. Im Gegensatz zur Konkurrenz aus Stuttgart und Ingolstadt setzt man beim EQS nicht auf eine 800-Volt-Architektur, sondern hat es bei 400 Volt belassen. Auch so lässt sich der EQS mit einer Leistung von 200 kW laden. Anders ausgedrückt: 15 Minuten reichen aus, um wieder 300 Kilometer Reichweite in den Batterien zu haben.
Zu den guten Verbrauchswerten trägt neben einer Vielzahl von Maßnahmen wie einem intelligenten Navigationssystem und einer Vorkonditionierung der Batterie vor dem Ladestopp auch die Aerodynamik des EQS bei. Sie liegt bei einem cW-Wert von 0,20. Einen solchen guten Wert weist sonst kein anderes Serienauto auf, berichtet man bei Mercedes stolz. Der EQS ist angetreten, Benchmarks zu setzen – und das gelingt ihm in vielen Bereichen auch.
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