Der Fiat-Konzern hat 1982 die Auto-Produktion in seiner Lingotto-Fabrik in Turin eingestellt. Doch früh haben sich die Verantwortlichen über eine postindustrielle Nutzung gemacht. Aus einem Industriedenkmal ist eine Kulturstätte geworden.
Von Corina Kolbe
Auf dem Dach der Lingotto-Fabrik in Turin testete der Autobauer Fiat einst seine brandneuen Fahrzeuge – etwa den Fiat 508 «Balilla», der in der 1930er Jahren zu einer Art italienischem Volkswagen wurde, den historischen 500 mit dem von Micky Maus inspirierten Spitznamen «Topolino» oder den schnittigen Sportwagen X 1/9.
Als letztes neues Modell lief hier der Lancia Delta vom Band, bevor der Produktionsbetrieb 1982 eingestellt wurde. Inzwischen beherbergt das vom Stararchitekten Renzo Piano umgestaltete Gebäude eine Shopping Mall, Hotels, ein Konferenzzentrum, ein Museum und einen Konzertsaal.
Die legendäre Teststrecke, über die der jetzige Fiat-Eigentümer Stellantis nur noch E-Autos fahren lässt, ist nach wie vor ein Blickfang. Das mehr als einen Kilometer lange Oval mit zwei imposanten Steilkurven verläuft in einer luftigen Höhe von 28 Metern. Im Gegensatz zu früher präsentiert sich die Strecke unter dem neuen Namen «La Pista500» als grüne Lunge und öffentlich zugängliche Kulturstätte. Besucher, die heute in einem weitläufigen Dachgarten inmitten von Kunstwerken flanieren, genießen zugleich den Panoramablick auf die Stadt und ihre Hügel, die den Vergleich mit der Toskana nicht scheuen müssen.
Präsentation des Fiat Grande Panda
Zum 125. Firmenjubiläum im vergangenen Juli wurde an dem geschichtsträchtigen Ort im Beisein von Vertretern der Gründerfamilie Agnelli der neue Fiat Grande Panda lanciert – zunächst als E-Auto, dem noch eine Hybridversion folgen wird. Das Design des kompakten Kleinwagens zitiert nicht nur Merkmale des ersten Panda-Modells aus den Achtzigern. Auch der Bezug zum Lingotto liegt auf der Hand: Armaturentafel, Monitore und Türgriffe haben eine ovale Einfassung, was an die Ellipsenform des Testparcours erinnert.
Eingeweiht wurde der Lingotto 1923, ein knappes Vierteljahrhundert nach Gründung der Fabbrica Italiana Automobili Torino. In den folgenden Jahren wurde er schrittweise erweitert. Der Ingenieur Giacomo Mattè-Trucco hatte die fünfstöckige Produktionsstätte im modernistischen Stil nach dem Vorbild der Fabriken von Ford in den USA entworfen. Zwei rechteckige Baukörper von etwa 500 Meter Länge waren durch Querverbindungen miteinander verklammert. Die Autos wurden auf zwei spiralförmigen Rampen konstruiert, die vom Erdgeschoss nach oben zur Testpiste führten. Neben dem Palacio Chrysler in Buenos Aires und der Impéria-Fabrik im belgischen Nessonvaux war der Lingotto damals eines der wenigen Gebäude mit einer Autostrecke auf dem Dach – und nur die Turiner Piste ist heute noch begehbar. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen galt die Autofabrik als die modernste in ganz Europa. Als die Anlagen nicht mehr den nötigen Platz boten, wurde Ende der Dreißigerjahre zusätzlich ein größeres Werk im Stadtteil Mirafiori errichtet, das heute noch eingeschränkt in Betrieb ist.
Früh wurde über Nachnutzung nachgedacht
«Die Schönheit des Lingotto fiel schon damals auf. Und gerade diese Schönheit stand irgendwann einer effizienten Produktion im Weg. Deshalb wurde die Fabrik in Mirafiori eröffnet», sagt Maurizio Torchio, Direktor des Centro Storico Fiat. In dem prächtigen Jugendstilgebäude in der Via Gabriele Chiabrera richtete das Unternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts einen Steinwurf von seinem ersten Sitz entfernt neue Werkstätten ein. In den Sechzigerjahren zogen dort das riesige Archiv und ein Firmenmuseum ein.
Über eine post-industrielle Nutzung des Lingotto wurde gleich nach der Fabrikschließung beraten. Als Gewinner eines internationalen Wettbewerbs erhielt 1985 der Renzo Piano Building Workshop den Auftrag für eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Industriedenkmals. Die Außenfassade blieb weitgehend unverändert, während das Innere komplett umgestaltet wurde. Im neuen Messezentrum Lingotto Fiere fand 1992 erstmals der Salone dell’Automobile statt, zwei Jahre später wurde auf dem Dach die spektakuläre «Bolla» fertiggestellt. In der futuristischen, bläulich getönten Kugel aus Stahl und Glas ist ein Tagungsraum untergebracht.
Internationale Musikszene zu Gast
Im selben Jahr wurde im Kongresszentrum das Auditorium Giovanni Agnelli eingeweiht. In dem nach dem Enkel des Fiat-Gründers benannten Konzertsaal sind seitdem international bekannte Orchester und Solisten zu erleben. Zur Eröffnung am 6. Mai 1994 spielten die Berliner Philharmoniker unter Leitung ihres damaligen Chefdirigenten Claudio Abbado, der seit seiner Jugend mit Renzo Piano befreundet war. Der in Turin geborene Dirigent Antonello Manacorda lernte das Auditorium kennen, als es noch im Bau war. Abbado, zu der Zeit längst ein Weltstar, wurde damals auf den jungen Geiger aufmerksam und holte ihn als Konzertmeister in das von ihm begründete Gustav Mahler Jugendorchester.
«Im Saal hingen noch überall lose Kabel herunter. Man fragte mich, ob ich ein paar Töne auf der Geige spielen könnte, um die Akustik zu testen. Dass auch Abbado im Saal war und zuhörte, habe ich erst danach erfahren», erinnert er sich. Für Manacorda begann damit eine Karriere als Musiker, die er inzwischen am Dirigentenpult fortsetzt. In den vergangenen Jahren gastierte er an Häusern wie der Metropolitan Opera in New York, dem Royal Opera House Covent Garden in London, der Opéra National de Paris oder der Dresdner Semperoper sowie bei renommierten Orchestern. Noch bis zum Ende der laufenden Spielzeit ist er außerdem künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam. Manacorda, dessen Urgroßvater Luigi Gajal de la Chenaye in den Fünfzigerjahren zum Fiat-Vizepräsidenten aufstieg, kehrt gern zu seinen Wurzeln zurück. «Der Saal im Lingotto liegt unter der Erde, er erinnert mich an eine Art U-Boot», sagt er. Die Konstruktion aus Kirschbaumholz überzeugt ihn ästhetisch wie auch akustisch. «Man fühlt sich dort wie im Innern eines Streichinstruments. Renzo Piano stellte sich den Saal als einen Resonanzkörper vor. Die
Atmosphäre dort hat mich für etwas sehr Warmes.»
Als junger Musiker war Manacorda Stipendiat der Vereinigung De Sono, deren Gründerin Francesca Gentile Camerana als künstlerische Leiterin von Lingotto Musica entscheidend dazu beitrug, dass die die ehemalige Fabrik auch zu einem Ort der Musik wurde. Ihr Sohn Benedetto Camerana verantwortete hingegen als Architekt die Umwandlung der früheren Teststrecke in einen künstlerisch inspirierten Garten mit nachhaltiger, klimagerechter Bepflanzung. Zusammen mit «La Pista500» wurde im September 2021 auch der vollelektrisch angetriebene Fiat (500)RED , das erste Modell der RED-Reihe, öffentlich vorgestellt. «Schütze den Planeten und seine Bewohner» – mit dieser Botschaft warb Stellantis für sein ökologisches Engagement in einer Branche, die in der Regel mit Umweltverschmutzung in Verbindung gebracht wird. Rund 40.000 einheimische Pflanzen bildeten hier den größten Dachgarten Europas, der frei zugänglich sei, erklärte das Unternehmen.
Camerana, in Italien einer der führenden Vertreter der «Green Architecture», arbeitete mit der Gartendesignerin Cristiana Ruspa zusammen. Auf «grünen Inseln» seien kleine Bäume, Sträucher, Süßgräser und Kräuter angepflanzt worden, erklärte er. «Die Natur hat sich diesen Ort zurückerobert. Einen solchen Naturgarten anzulegen, bedeutet, in Richtung Zukunft zu schauen. Die Zukunft muss uns allen heute präsent sein, weil die Umweltkrise bereits eine Tatsache ist.»
Kunst hautnah erleben
Die Nähe zur Natur verbindet sich auf der «La Pista500» mit einem unmittelbaren Kunsterlebnis. In dem Dachgarten stellt die nach ihren Stiftern benannte Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli Skulpturen und Installationen von Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt aus. In dem 2002 eröffneten Museum im Gebäude sind bereits 25 Kunstwerke zu sehen, darunter Bilder berühmter Maler wie Tiepolo, Renoir, Picasso und Matisse. Die Exponate im Freien schaffen auf besonders eindringliche Weise einen Bezug zu unserer Gegenwart. Manche Werke sind mit Audio- oder Videobotschaften versehen, wie etwa die Sound-Installation «Birdcalls» von Louise Lawler, die sich schon vor Jahren kritisch mit der Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb auseinandersetzte. Es quiekt, zwitschert und schnattert, und dazwischen werden Namen von 28 zeitgenössischen männlichen Künstlern geträllert.
Die Kuratorin Andrea Miller-Keller interpretierte die Laute der fiktiven Vögel als «patriarchalischen Rollenschrei». Von weitem sichtbar ist die vier Meter hohe Bronzeskulptur «Die Doppelgängerin» der österreichischen Medien- und Performancekünstlerin Valie Export. Zwei riesige Scheren sind hier ineinander verschränkt, was unterschiedlich interpretiert werden kann. Einerseits wird die Schere mit typisch weiblicher Handarbeit assoziiert, zum anderen aber auch mit männlichen Kastrationsängsten.
Nachdenken über Bedeutung des öffentlichen Raums
Die Pinakothek will die Besucher darüber hinaus dazu anregen, über die gegenwärtige Bedeutung des öffentlichen Raumes nachzudenken. Die Kunstwerke nehmen Bezug auf die Industriekultur und konfrontieren die Betrachter zugleich mit den sozialen, politischen und kulturellen Folgen der Transformation dieses Erbes im 21. Jahrhundert. Auch der Dialog zwischen der natürlichen und der urbanen Landschaft bewegt sich in einem Spannungsfeld, das von jedem einzelnen Besucher individuell weiter erforscht werden kann.
Mit der Vergangenheit des Lingotto und der traditionsreichen Automarke befasst sich dagegen die Ausstellung «Casa Fiat» im vierten Stock der Pinakothek. Durch große Fenster kann man von allen vier Seiten aus auf die Rennstrecke schauen. Bilder, Objekte und Dokumente lassen die Geschichte der Firma und des italienischen Autodesigns lebendig werden. Im Zentrum steht das historische Modell des Fiat 500, das für die Ausstellung in Holz nachgebildet wurde. Durch die gelungene Umnutzung des ikonischen Industriedenkmals kann Fiat offensichtlich ein starkes Zeichen setzen.