Wolf-Henning Scheider hat dem Technologiekonzern ZF ambitionierte Klimaziele verpasst. Im Interview spricht der ZF-Chef über den Weg zur Klimaneutralität und die Herausforderungen durch die Energiekrise.
Es ist Mitte September. Wir sind mit Wolf-Henning Scheider verabredet, dem Chef des Technologiekonzerns ZF. Der Manager empfängt uns im Konferenzraum im sechsten Stock in der Unternehmenszentrale in Friedrichshafen. Von hier oben hat man einen wunderschönen Blick auf den Bodensee. Es sind Tage, in denen Scheider indes wenig Zeit hat, den Ausblick aufs Dreiländereck zu genießen. Der Manager ist zusammen mit seinen Vorstandskolleginnen- und Kollegen beschäftigt, den Konzern durch die Energiekrise zu steuern und auf eingetrübte Wirtschaftsaussichten einzustellen.
Tage vor unserem Gespräch hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag vor Energieengpässen in Deutschland gewarnt. Auch Scheider hält einen Energieengpass für möglich. „Ja, wir stellen uns darauf ein und bereiten uns vor. Es ist natürlich der Blick in die Glaskugel. Genaues kann man nicht vorhersagen. Deswegen ist es umso wichtiger, in Szenarien zu denken“, sagt Scheider. Wie er berichtet, würde man derzeit alle Standorte darauf vorbereiten, „Energie in einem zweistelligen Prozentbereich zu sparen und Abschaltungen in Notfallplänen vorauszusehen, damit wir maximal unsere Produktion aufrechterhalten können“. Kurzfristig nehme sich ZF vor, über 20 Prozent Energie zu reduzieren. „Das ist in einer kurzzeitigen Perspektive auch möglich, um durch den Winter zu kommen.“
Dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) plant hat, nur zwei statt der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke bis April als Notfallreserve laufen zu lassen, kann Scheider nicht verstehen. „Ich erinnere mich, dass ich im Studium war, als die „Atomkraft? Nein danke!“-Aufkleber auf den Autos waren. Das ist schon einige Jahrzehnte her. Wenn man in so einer schwierigen Lage ist, kann ich nicht nachvollziehen, warum wir nicht drei Kraftwerke einige Monate voll am Netz halten sollten, damit wir durch den Winter kommen und dann mit besserer Planbarkeit unsere Energiepolitik wieder auf solidere Füße stellen.“
Ambitionierte Klimaziele gesetzt
Wer meint, dass Scheider angesichts dieser Aussage ein Verfechter der Kernkraft oder fossiler Energien ist, irrt. Bereits vor vier Jahren hat er zusammen mit seinem Vorstand dem Technologiekonzern ein ambitioniertes Klimaschutzziel verpasst. 2030 will ZF seinen Stromverbrauch aus erneuerbaren Energien bestreiten – und bis 2040 zur Klimaneutralität kommen. Das ist schneller, als es das Klimaschutzgesetz (KSG) der Bundesregierung fürs Jahr 2045 vorsieht.
Hilft diese frühe Festlegung auf Erneuerbare schon jetzt, besser durch die Energiekrise zu kommen? „Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung. Die langfristigen Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, helfen zum jetzigen Zeitpunkt nur gering.“ Entsprechend werden die gestiegenen Energiekosten ZF massiv belasten. In welchem Umfang genau, könne man angesichts der extremen Ausschläge bei den Energiepreisen derzeit nicht sagen. Dass die Bundesregierung auch zum Schutz kleiner und mittelgroßer Unternehmen ein Entlastungspaket auf den Weg gebracht hat, wird von Scheider begrüßt. Allerdings sei es schwer abzuschätzen, ob das Entlastungspaket reicht, sie zu schützen. „Es ist erst einmal positiv zu kommentieren, dass die Regierung hier sehr aktiv, sehr kurzfristig Maßnahmen einleitet, um diese unvorhergesehenen Spitzen zu mildern, die sonst Unternehmen aus dem Markt nehmen könnten. Zumal an mancher Stelle die Marktmechanismen gerade nicht funktionieren können. Insofern begrüßen wir das.“ ZF selbst wird auf die entstehenden Mehrkosten durch die höheren Energiepreise mit Preissteigerungen reagieren. „Es gibt zu Preiserhöhungen keine Alternative.“
Ohnehin trüben sich die Wirtschaftsaussichten weiter ein. Das Ifo-Institut geht für 2022 nur noch von einem Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent aus und senkt die Prognose für 2023; Deutschland steht vor einer Rezession. „Es ist immer die Frage, wie lange man in einen Rückgang der Wirtschaft geht. Wir bei ZF rechnen damit, dass im vierten Quartal und Anfang 2023 der Rückgang stattfinden wird.“ Angesichts der hohen Energiepreise sorgt sich Scheider um den Standort Deutschland. „Wenn Europa in eine Phase kommt, in der wir weitaus höhere Energiekosten haben, und das ist das, was gerade am naheliegendsten ist, dann berührt das die Wettbewerbsfähigkeit der Produktion in Europa“, sagt der Vorstandschef und fügt hinzu: „Wir sind auch bei ZF Teil des Exportweltmeisters Deutschland. Die überproportional zu anderen Regionen steigenden Kosten in unserem Heimatmarkt werden unsere Wettbewerbsfähigkeit schmälern – und das muss diskutiert werden.“
Einer der Vorreiter in Branche
Mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2040 gehört der Technologiekonzern zu den Vorreitern in der Branche – auch mit der Art und Weise, wie man es erreichen will: ZF setzt nicht auf Kompensationen, sondern auf Vermeidung. So will ZF bis zum Jahr 2025 40 Prozent seines Energiebedarfs und der gesamten CO2-Emissionen reduziert haben. „Bis 2030 wollen wir die Emissionen im Scope 1 und 2, also das, was wir selber unmittelbar als Unternehmen verursachen, um 80 Prozent reduzieren. Bis 2040 wollen wir einschließlich dem Scope 3, also samt den Produkten in ihrer Nutzungsphase, auf null kommen.“ Wie Scheider sagt, sei Scope 3 dabei am schwierigsten. Dabei geht man mit dem Elektroautobauer Polestar progressive Wege. Die Schweden wollen bis 2030 ein CO2-neutrales Auto bauen. ZF beteiligt sich an diesem Zukunftsprojekt. „Wir wollen zeigen, dass wir auch sehr schnell unsere gesamte Produktwelt in die CO2-Neutralität bekommen können.“ Das von Polestar genannte Jahr 2030 sei dabei eine Challenge, so Scheider. „Doch genau das brauchen wir. Es ist machbar, deshalb sind wir eingestiegen in das Projekt“.
Den Umstand, dass andere Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität auf Zertifikate und andere Formen der Kompensation setzen, mag Scheider nicht kommentieren. „Wir gehen unseren Weg und wir gehen den Weg der tatsächlichen CO2-Neutralisierung. Damit fühlen wir uns wohl. Das ist das Einzige, was wir gegenüber unseren Mitarbeitern und der Öffentlichkeit vertreten können.“ Scheider verweist darauf, dass ZF an seinen Standorten klare Reduzierungsziele von jährlich zwei Prozent habe. „Das ergibt über zehn Jahre 20 Prozent. Da merkt man, da ist noch sehr viel übrig.“
Deshalb hat ZF ein großes Abkommen mit einem CO2-neutralen Stahlerzeuger geschlossen, dem schwedischen Start-up H2 Green. „Stahl und Aluminium sind bei uns im Produktprogramm nach wie vor, auch in zehn bis 15 Jahren, die großen CO2-Erzeuger. In diesem Bereich haben wir konkrete Schritte eingeleitet, wie wir in die CO2-Neutralität kommen.“ Vom H2 Green bezieht ZF von 2025 bis 2032 jährlich 250.000 Tonnen grünen Stahl. Das entspricht zehn Prozent des aktuellen Stahlbedarfs und sorgt für eine CO2-Einsparung von 475.000 Tonnen jährlich. Doch woher sollen die anderen 90 Prozent angesichts der steigenden Nachfrage nach Grün-Stahl kommen? „Deswegen ist es so wichtig, früh zu sein, schnell zu sein. Als wir den Vertrag mit H2 Green geschlossen haben, waren wir der größte Kunde für dieses Start-up. Das zeigt, dass wir sehr schnell, sehr frühzeitig unsere Verträge generieren“, erklärt Scheider. „Auch unsere etablierten Lieferanten sind dabei, ihre Produktion umzustellen. Das heißt, wir bauen eine Roadmap auf, die mit den 2030er- und 2040er-Zielen kongruent sind. Die bisher abgedeckten zehn Prozent sind ein guter Einstieg, weitere Abschlüsse werden in Kürze folgen.“
Indirekte Beteiligung an Windparks
Daneben hat ZF auch „grüne Power-Purchase-Agreements abgeschlossen“ und ist dabei, sich indirekt an Windparks zu beteiligen. Ein Schritt, der nahe liegt, da man auch Lieferant für die Windpark- und die Windindustrie ist. „Als wir vor vier Jahren unsere Strategie der Klimaneutralität auf den Weg gebracht haben, gab es noch viele Fragezeichen und für manche Themen noch keine Lösungen.“ Das sei auch beim Vertragsabschluss für den grünen Stahl so gewesen. „Doch mit dem Weg, sich ein ambitioniertes Ziel zu setzen, obwohl man noch nicht alle Fragen gelöst hat, kommen wir über die Zeit zu den Lösungen.“ Diese Lösungen werden auch dadurch erreicht, dass man Unternehmen unterstütze, die beispielsweise die benötigten Mengen an CO2-neutral erzeugten Aluminium und Stahl herstellen.
Deutschlands Ziel, bis 2030 auf einen Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energien am Strommix zu kommen, wird von Scheider begrüß, aber sich darauf verlassen will er nicht. „Aus meiner Sicht wäre es fahrlässig, wenn wir nur darauf setzen würden, dass es dazu kommt. Wir müssen uns Alternativen offen halten – und das machen wir“, sagt Scheider. So gäbe es in der aktuellen Situation durchaus Störgrößen, die das Erreichen des nationalen Ziels gefährden. Deshalb würde ZF alle alternativen Wege verfolgen, sein eigenes Ziel zu erreichen, sollte das nationale nicht erreicht werden. Ein Verpassen der nationalen Zielsetzung erscheint aufgrund des schleppenden Ausbautempos bei den Erneuerbaren nicht unwahrscheinlich zu sein. Das sieht auch ZF mit Blick auf die angebotenen Getriebe für Windanlagen Eine steigende Nachfrage sei „leider ganz und gar nicht“ feststellbar. „Wir müssten quasi ab sofort in eine dreifache Installationsrate von Windenergieanlagen kommen, damit das national verkündete Ziel erreicht wird“, so Scheider. „Die Auftragseingänge sind überhaupt nicht da, die Genehmigungsprozesse sind zu kompliziert.“
Scheider verlässt ZF Ende des Jahres
Ende des Jahres wird Scheider ZF übrigens verlassen. Sein im Januar 2023 auslaufender Vertrag wird auf eigenen Wunsch nicht verlängert. Und, gibt es etwas, was ihn in seinen vier Jahren an der Spitze des Technologiekonzerns besonders stolz macht? „Es ist schon viel passiert in dieser Zeit, es gibt viele Dinge, die uns gelungen sind. Beispielhaft möchte ich herausgreifen, dass ich stolz auf das Team bin, das die Elektromobilität bei ZF hochgefahren hat.“ In diesem Bereich sei ZF kein Früheinsteiger gewesen, ganz im Gegenteil. Erst 2015/2016 sei man so richtig ins Thema eingestiegen. Doch jetzt könne man sich über Auftragseingänge im Volumen von über 23 Milliarden Euro freuen.
Bleiben denn die Nachhaltigkeitsziele auch unter seinem Nachfolger Holger Klein bestehen, der bereits dem Vorstand angehört? Ja, davon ist Scheider überzeugt, „Die Strategie „Next Generation Mobility“ ist ja nicht von mir aufgestellt worden, es ist eine Teamleistung.“ Von daher zeigt sich Scheider froh, dass sein Nachfolger aus dem eigenen Haus kommt.
Es ist Ende September. Knapp zwei Wochen nach unserem Besuch in Friedrichshafen hat die Bundesregierung die Gasumlage gekippt und die Gaspreisbremse angekündigt. Mit einem Paket in Höhe von 200 Milliarden Euro sollen die hohen Energiekosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher abgefedert und Unternehmen direkt unterstützt werden.