Der Kia EV9 ist das Flaggschiff der Koreaner. Was es zu bieten hat, haben wir in einem Dauertest herausgefunden.
Rund ein halbes Jahr hat sich der Kia EV9 im Dauertest bewähren dürfen. Der große Elektro-Crossover (ab 72.500 Euro) mit sechs Sitzplätzen überzeugte dabei vor allem als Langstreckenauto, konnte aber auch mit Platz und Variabilität im Familienalltag punkten.
Trotz seiner eher amerikanischen Dimensionen schlug er sich selbst im City-Verkehr einigermaßen ordentlich. Ein paar Dinge fielen aber auf – positiv und negativ.
Schnellladen ist wichtiger als Reichweite
Batterien sind teuer, große Batterien sehr teuer. Der Kia EV9 trägt rund 100 kWh mit sich rum, was sich beim aktuellen Marktpreis für die Kilowattstunde Akku auf rund 12.000 Euro Kosten allein für den Energiespeicher summiert. In der Praxis war die Kapazität in der Regel mehr als ausreichend, selbst wenn die 505 Kilometer Normreichweite bei Autobahntempo viel schneller dahin schmolzen als die Entfernung zum Ziel. Noch schneller ging es allerdings umgekehrt: Während bei mittlerem Reisetempo locker 25 bis 30 kWh pro 100 Kilometer aus dem Akku flossen, flossen an der Ladesäule im Schnitt 200 kWh pro Stunde wieder rein.
Denn der Kia zählt dank seines 800-Volt-Batteriesystems beim Schnellladen zu den dynamischsten Autos auf dem Markt. Wer kurz auf Toilette geht und vielleicht noch einen Kaffee zieht, hat in der Zwischenzeit an einer geeigneten Säule schon wieder Strom für ein paar hundert Kilometer
Autobahnfahrt geladen.
Nicht die Länge zählt
Zugegeben, mit 5,02 Metern Länge ist der EV9 alles andere als ein kleines Auto. Aus vielen Quer-Parklücken ragt er hervor, in viele Längslücken-Markierungen passt er gar nicht und das Wenden in drei Zügen klappt nur unter Idealbedingungen. Das wahre Problemchen im Alltag ist jedoch die Überbreite. 2,26 Meter inklusive mit Spiegel bannen ihn in fast jeder Autobahnbaustelle auf die Lkw-Spur ganz rechts.
Im Parkhaus muss der Beifahrer vor der Einfahrt in die Lücke aussteigen, weil für die Öffnung beider Türen später einfach kein Platz sein wird. Und in der Waschstraße sind beim Rangieren besonders viel Präzision und Feingefühl gefragt.
Man kann häufiger zu sechst fahren als man denktLediglich jede zehnte deutsche Familie hat mehr als zwei Kinder. Aber auch für die restlichen 90 Prozent kann sich ein Sechs- oder Siebensitzer lohnen – und zwar nicht nur für zwei Kindergeburtstag-Shuttle-Fahrten im Jahr. Stattdessen wird die Fahrgemeinschaft plötzlich wieder attraktiv: Ausflug mit Oma und Opa? Geht mit nur einem Auto. Vater-Kind-Ausflug mit Freunden? Kein zweiter Wagen nötig. Mit der ganzen Kollegenschaft zur Betriebs-Grillfeier? Passt.
Verschwiegen werden sollen hier aber auch nicht die Nachteile: Wer ein großes Auto hat, wird im Bekanntenkreis schnell zum Standard-Ansprechpartner für Transportleistungen aller Art. Schulbusfahrer-Streiks nerven dann doppelt.
Schwenkbare Sitze sind nicht (nur) zum Sitzen
Der sechssitzige EV9 ist nicht nur groß, sondern auch variabel. So lassen sich die Sitzlehnen in Reihe drei elektrisch hoch- und runterklappen. Reihe zwei lässt sich längst verschieben und die Lehnen können für einen leichteren Zugang zu den hintersten Plätzen schräg weggeklappt werden.
Nicht wirklich überzeugen konnte zunächst eine weitere Funktion: Wer in der Mittelreihe einen Hebel unter der Sitzfläche zieht, kann das komplette Gestühl um 180 Grad drehen. So entsteht zusammen mit den beiden hinteren Sitzen eine Sitzgruppe, die sich allerdings mangels Beinfreiheit selbst von Kindern kaum nutzen lässt. Eine sinnvolle Anwendung gibt es trotzdem, die spätestens beim regelmäßigen Reifenwechsel auffällt. Weil die riesigen Pneus nicht allesamt in den (durchaus auch riesigen) Kofferraum passen, klemmt man sie einfach zwischen die Lehnen der Vordersitze und die gegen die Fahrtrichtung gedrehten Lehnen der zweiten Reihe. Klappt übrigens auch mit anderer Art Gepäck.
Wohin mit den Displays?
Wie der Fernseher das Wohnzimmer, so dominiert mittlerweile der Zentralbildschirm das Pkw-Interieur. Um die zahlreichen Infos und Bedienelemente unterzubringen haben sich bei vielen Herstellern große tablet-artige Screens in der Mittelkonsole etabliert, die aktuell modern aussehen, aber bald wirken könnten wie Opas alter Röhrenfernseher.
Begrüßenswert daher, dass Kia bei diesem Display-Exzess nicht mitmacht und auf ein vergleichsweise kleines und dezentes Bildschirmband setzt. Allerdings geraten die Koreaner dabei mittlerweile an Grenzen, wie die ungünstig platzierte Touch-Bedieneinheit für die Klimaanlage zeigt. Der dafür zuständige Bildschirmteil liegt nämlich im toten Winkel des Lenkradkranzes, was eine treffsichere Bedienung ebenso erschwert wie ein flottes Ablesen.
Unterstützung hilft beim Laden
Die an den DC-Säulen angeschlagenen Schnellladekabel sind dick und entsprechend schwer. Häufig sind sie auch noch unflexibel und kurz, was zu einer oft angespannten Verbindung mit dem Auto führt. Die schweren Kupferstränge ziehen und zerren dann an der Ladebuchse, die beim EV9 dem Stress nicht immer gewachsen war und wenige Mikrometer nachgab.
Die Folge: Weil die Verbindung zwischen Stecker und Auto nicht mehr 100-prozentig passte, rastete der Verriegelungsstift des Fahrzeugs nicht in die vorgesehene Nut des Steckers ein. Die Säule verweigerte dann, Strom fließen zu lassen. Beheben kann man das Problem meist, indem man den Stecker bei der Initialisierung des Ladevorgangs kurz anhebt und die Verbindung entlastet, so dass die Verriegelung aktiviert wird. Anschließend hält sich bombenfest. Für das nächst Lifting sollten sich die Koreaner aber vielleicht eine elegantere Lösung einfallen lassen.
Gutes Klima – auch für‘s Handy
Dreizonen-Klimaautomatik, Lüftungsdüsen im Dachhimmel, Klimasitze und sogar eine Wärmepumpe, damit der Heizenergiebedarf nicht so stark auf die Reichweite drückt. In Sachen Klima ist der EV9 eigentlich hervorragend aufgestellt. Nur dem Smartphone wird im Sommer regelmäßig zu heiß, ist doch die Ladeschale so in die Mittelkonsole integriert, dass ein Gutteil des Geräts von der Armlehne überdacht wird. Bei starker Sonneneinstrahlung mangelt es daher an Luftzirkulation, wodurch der Ladevorgang wegen Überhitzung abgebrochen wird. Platz an anderer Stelle wäre wohl genug, schließlich zählt das Cockpit des breiten Crossovers zu den luftigsten und geräumigsten seiner Art. (SP-X)